Pythagoras – Mathematiker und Philosoph

8. Juni 2011 | Von | Kategorie: Fallbeispiele, Featured

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Der Mathematiker

Der „Satz von Pythagoras“, eine der Grundlagen des trigonometrischen Mathematikunterrichts, ist heute wohl jedem Schüler geläufig. Neben der Formel a^2+b^2=c^2 prangt im Schulbuch zumeist noch das Konterfei eines bärtigen Griechen mit hoher Stirn, welcher diesen epochalen geometrischen Zusammenhang bereits vor mehr als zwei Jahrtausenden ausgebrütet hat.

Die Tatsache, dass Pythagoras seine Erkenntnisse und Berechnungen ohne Taschenrechner und Computerunterstützung vollzog und in einer „barbarischen Zeit“ über umfassende Kenntnisse der Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musiktheorie verfügte, ringt dem verdutzten Tafelklässler schließlich doch einigen Respekt vor diesem Kopf ab.

Der Philosoph

Wer sich über den Schulunterricht hinaus für Pythagoras (570-510 v. Chr.) interessiert und etwas tiefer recherchiert, erfährt mit Erstaunen, dass dieser nicht nur ein genialer Pionier der Mathematik und Naturwissenschaften war, sondern vor allem um die Begründung der antiken Philosophie und um die Weiterentwicklung der Humanität bemüht war.

So geht der Begriff „Philosoph“ auf Pythagoras zurück und bedeutet wörtlich „Freund der Weisheit“ (griech. philos=Freund + sophos/sophia=Weisheit).

Auf Reisen

Pythagoras selbst erwarb sich diese Weisheit auf für damalige Verhältnisse sehr ungewöhnliche Weise. Bereits als Zwanzigjähriger begab er sich auf eine über zwei Jahrzehnte dauernde Reise, bei welcher er die gesamte in der antiken Zeit bekannte Welt besuchte, darunter Ägypten, Babylonien, Arabien und Indien.

In jedem Kulturkreis suchte Pythagoras die jeweils geisteswissenschaftlich führenden Persönlichkeiten auf, um von ihnen zu lernen. Da ihm selbst bald der Ruf eines hohen Gelehrten vorauseilte, erhielt er überall Zutritt zu an sich geheim gehaltenem Wissen. Nachdem er sich auf gefahrvollen Reisen mitden verschiedensten religiösen Anschauungen und naturwissenschaftlichen Kenntnissen vertraut gemacht hatte, kehrte er schließlich als vierzigjähiger Mann nach Samos zurück.

Selbst sein Zeitgenosse und „philosophischer Konkurrent“ Heraklit attestierte Pythagoras, dass er derjenige Mensch gewesen sei, der das allermeiste Wissen der Welt gesammelt habe.

Erste Anfeindungen

In seiner Heimat wollte Pythagoras seinen Wissensschatz zum Wohle der Allgemeinheit lehren. Seine unter freiem Himmel gehaltenen Vorträge stießen jedoch schnell auf Unverständnis und Kritik. Durch Drohungen und Anfeindungen seines Lebens nicht mehr sicher, verließ er seine Heimat wieder und zog weiter nach Unteritalien, an die Küste des heutigen Kalabrien.

Seine Schule

In der Stadt Kroton fand Pythagoras schließlich die Voraussetzungen zur Gründung einer Schule der Philosophie, deren Bestreben es war, den Menschen zu ethischer und moralischer Reife zu führen und ihn damit von den Bedingungen des Daseins („dem Gesetz der Notwendigkeit“) zu befreien. Die Mitglieder waren bestrebt, Maß, Ordnung und Harmonie zu erkennen und die im Inneren des Menschen waltenden, gegensätzlichen Kräfte zum Ausgleich zu bringen. Die pythagoreischen Grundsätze sollten die Schüler auch in Familie und Staat einbringen.

Bevor jemand in die Schule aufgenommen wurde, musste er sich strengen ethischen Prüfungen unterziehen, welchen viele Anwärter nicht gewachsen waren. Wenn ein Neuling aufgenommen war, durfte er die ihn drängenden Fragen nicht sogleich aussprechen, sondern musste in Gegenwart von Pythagoras zunächst fünf Jahre lang schweigen. Die Schulung ging einher mit einem umfangreichen Verhaltenskodex, welcher an mittelalterliche Mönchsgelübde erinnert und welcher die persönliche moralische Entwicklung gewährleisten sollte (Verzicht auf Besitz, Pazifismus/Verbot des Tötens, Keuschheit, Mildtätigkeit etc.).

Sein Einfluss in der Antike

Ungeachtet dieser hohen Anforderungen strömten von weit her Menschen in die Schule, um am einzigartigen Wissen von Pythagoras teilzuhaben. Selbst die gebildetsten Menschen des Landes sahen Pythagoras als unanfechtbare geistige Autorität an, welche allen Dingen auf den Grund sehen kann.

So gewann die pythagoräische Schule rasch an Einfluss und Ansehen. Auch die führenden Persönlichkeiten von Kroton erkannten die Kapazität von Pythagoras und gaben die soziale und politische Entwicklung der Stadt in seine Hand. Die Hauptstadt der Pythagoreer erhieltbald Einfluss über alle umliegenden Stadtstaaten, in welchen ebenfalls pythagoreische Gemeinschaften gegründet wurden. Zur Zeit der Hochblüte der Schule hatten Schüler des Pythagoras in fast allen süditalienischen Städten die wichtigsten Ämter inne und bestimmten das kulturelle Leben.

Seine Gegner

Parallel mit dem Aufbau der Schule gingen jedoch auch vehemente Anfeindungen und Verleumdungen einher. In der antiken Welt, in welcher man Menschen kategorisch in Griechen und „Barbaren“ (=Nicht-Griechen) einzuteilen pflegte, stieß die Lehre des Pythagoras, wonach alle Menschen gleich sind und sich daher brüderlich verhalten sollten, auf Widerstand. Schließlich wurden in die Schule des Pythagoras nicht nur Nicht-Griechen, sondern auch Frauen aufgenommen, welche sogar führende Positionen einnehmen konnten. Auch Sklaven wurden brüderlich behandelt und durften am Tisch der pythagoreischen Hausherren sitzen. – Eine für damalige Verhältnisse vollkommen revolutionäre Haltung, welche von konservativen Bürgern auch als Frevel gegen die etablierten Verhältnisse aufgefasst wurde.

Den latenten Unmut der Bürger machte sich Kylon, ein vermögender Adeliger und Gegner von Pythagoras (er wurde von diesem wegen mangelnder ethischer Voraussetzungen von der Schule abgewiesen) zunutze, um mit Hilfe des populistischen Redners Ninon wirkungsvoll gegen die Pythagoreer zu hetzen und diese beim Volk in Misskredit zu bringen.

Seine Ermordung

Durch zahlreiche Diffamierungen aufgestachelt, eskalierte schließlich die Lage, indem ein wütender Mob von mehreren hundert Menschen das Hauptquartier der Pythagoreer belagerte und in Brand setzte. Nachdem Pythagoras getötet war, wurden auch seine über Süditalien und Sizilien verstreuten ehmaligen Schüler systematisch verfolgt und umgebracht. Einigen Pythagoreern gelang es, sich auf das griechische Festland zu retten und dort neue Schulen im Sinne des Pythagoras zu gründen.

Das von Pythagoras gesammelte Wissen wurde jedoch fast vollständig vernichtet, sodass heute nur noch vereinzelte Fragmente aus seinem Werk erhalten sind, darunter die „Goldenen Verse“ (lat. „Carmen aureum“),das sind in Hexametern gefasste Lebensregeln.

Seine Ideale

Obwohl es seinen Gegnern gelang, das Werk von Pythagoras fast vollständig auszumerzen, ist es  erstaunlich, in welcher Weise das Gedankengut des Pythagoras dennoch seinen Weg durch die Geschichte gemacht hat.

Mittlerweile sind die von den Pythagoreern gelebten Ideale: Schutz des Lebens und der Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit in den Verfassungen der meisten Demokratien sowie in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung verankert.

Pythagoras gilt heute als der Inbegriff progressiven Forschergeistes und als Ahnvater der Naturwissenschaft.

Seine Nachfolger

Seine Gedanken blieben auch im philosophischen Diskurs wegweisend und wurden von den größten Denkern der Geschichte immer wieder aufgegriffen und neu belebt:

Einer der bedeutendsten Pythagoreer des 4. Jh. v. Chr. war Archytas von Tarent, welcher sich gleichzeitig als Staatsmann, Heerführer, Philosoph, Physiker und Ingenieur betätigte. Er unterhielt eine Freundschaft zu Platon (428-347 v. Chr.), welcher sich ebenfalls intensiv mit der pythagoreischen Philosophie befasste. Auch nach dem Tod Platons dauerte in dessen Platonischer Akademie die Beschäftigung mit dem Pythagoreismus an.

Das pythagoreische Streben nach Weisheit wurde auch von Aristoleles (384-322 v. Chr.) rezipiert: Weisheit ist die erste aristotelische Tugend und als unmoralisch definiert Aristoteles schlichtweg jenen Menschen, der nicht nach Weisheit strebt.

In der von Quintus Sextius im 1. Jahrhundert v. Chr. in Rom gegründeten Philosophenschule der Sextier wurden neben stoischen auch pythagoreische Lehren vertreten. Dieser Schule gehörte Sotion, der Lehrer Senecas, an. Von da her übernahm Seneca unter anderem die pythagoreische Übung der kritischen Tagesreflexion am Abend, mit der man für sich Bilanz zog: „Welches deiner charakterlichen Übel hast du heute geheilt? Welchem Laster hast du widerstanden? In welcher Hinsicht bist du besser geworden?“

Der Dichter Ovid (43 v. Chr.-17 n. Chr.) entwickelte im 15. Buch seiner Metamorphosen einen fiktiven Lehrvortrag des Pythagoras und trug damit ebenfalls zur Verbreitung des pythagoreischen Gedankenguts bei.

Mystiker oder Wissenschaftler?

Die heute unter Historikern geführte Kontroverse, ob Pythagoras in erster Linie ein Wissenschaftler oder ein Mystiker gewesen sei, ist insofern irrelevant, als hierbei der Umstand der antiken Bewusstseinverfassung verkannt wird. In der Antike waren Naturerkenntnis, Kunst und Metaphysik/Glaube genauso selbstverständlich miteinander verknüpft, wie es heute als selbstverständlich erscheint, diese Disziplinen scharf voneinander zu trennen.

Sein Einfluss in der Neuzeit

Auch in der Neuzeit haben sich seit der Renaissance zahlreiche Naturphilosophen stark von pythagoreischem Gedankengut beeinflussen lassen. Ausdrücklich zur pythagoreischen Tradition bekannt haben sich u.a. der Astronom Johannes Kepler (1571-1630) und die Humanisten Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494) und Johannes Reuchlin (1455 -1522). Der Physik-Nobelpreisträger Werner Heisenberg verwies hinsichtlich der „Entdeckung der mathematischen Bedingtheit der Harmonie“ auf Pythagoras und meinte, die moderne Naturwissenschaft sei „eine konsequente Durchführung des Programms der Pythagoreer.“

Das pythagoreische Denken, wonach die Dinge nicht in sich selbst bestehen, sondern nur durch ihre mathematischen und zeitlichen Beziehungen zueinander entsprechende Resultate in Erscheinung treten lassen, findet schließlich in der Relativitätstheorie Albert Einsteins ihre Bestätigung.

Anhand der Geschichte der Pythagoreer zeigt sich wiederum, dass es gerade die Gedanken derjenigen Menschen sind, welche als Bausteine der Zukunft dienen, die für Ihren pionierhaften Einsatz für die Humanität ihren guten Ruf, ihre Gesundheit oder sogar ihr Leben opfern mussten.

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