Entwicklung der Anti-Sekten Bewegung Teil 2

Teil 2 „Wo ist die Gefahr?“

„Wir leben nicht in irgendeiner Epoche der Geschichte. Wir leben in einer entscheidenden und heiklen Stunde, in welcher jeder aufgerufen ist, selbst Verantwortung zu Übernehmen. Gerade in der sogenannten Frage der ‚Sekten‘ wird in letzter Zeit der Unterschied zwischen demjenigen, der die Freiheit wirklich liebt, und demjenigen, der sich mit ihrem Phantom zufriedengibt, deutlich und sichtbar.“

Massimo Introvigne (CESNUR Institut, Turin)1

Weltanschauungskontrolle in Deutschland?

Wenn wir lediglich davon ausgehen, dass es in Deutschland jedem frei steht, sich in Glaubensdingen individuell zu orientieren, dann genießen wir heute eine gewisse religiöse Glaubensfreiheit. Schwierig wird es allerdings dann, wenn jemand nicht nur eine „Privatphilosophie“ betreibt, sondern beginnt, aus seinen inneren Überzeugungen zu handeln, oder sich gar mehrere Personen zusammentun und gemeinschaftlich im religiös-weltanschaulichen Bereich aktiv werden. Sobald eine erste Öffentlichkeitswirksamkeit entsteht, erregt er damit die Aufmerksamkeit einer ganzen Armada von „Weltanschauungs-“ und „Sektenbeauftragten“: Sein Leben, seine öffentlich gesprochenen Worte, seine weiteren Schritte werden nun genau beobachtet: Veröffentlichungen, Bücher, Artikel werden sorgfältig archiviert und ausgewertet, seine Vorträge der Seminare inkognito besucht, Verbindungen zu anderen „Sekten“ genauestens beobachtet. Dies besorgen im allgemeinen die kirchlichen (evangelische und katholische) Sektenstellen parallel, also unabhängig voneinander, so dass es meist gleich zwei „Dossiers“ gibt, die über den „werdenden Sektierer“ angelegt werden. In Schleswig-Holstein ansässige Bürger werden zusätzlich damit rechnen müssen, wegen ihrer „weltanschaulichen Umtriebe“ auch staatlich erfasst zu werden: §25 des dortigen Landesdatenschutzgesetzes sieht eine „Besondere Dokumentationsstelle für Sekten“ vor, die, so wörtlich im Gesetzestext:

„zum Zweck der Aufklärung oder Warnung die Betätigungen von Sekten oder sektenähnlichen Vereinigungen einschließlich der mit ihnen rechtlich, wirtschaftlich oder in ihrer religiösen oder weltanschaulichen Zielsetzung verbundenen Organisationen oder Vereinigungen in Schleswig-Holstein dokumentieren und über sie informieren“ (kann).

Auch wenn meist noch keine direkten Schritte eingeleitet werden: Ohne das sie davon wissen oder ahnen, werden eifrig Daten über Sie gesammelt, sobald sie beginnen, mit weltanschaulich vom „Mainstream“ abweichenden Gedanken an die Öffentlichkeit zu treten.

Staatliche und kirchliche Sektenstellen – eine merkwürdige Einrichtung

Während wir uns heute der Notwendigkeiten von speziellen Beauftragten zum Schutz von Minderheiten bewusst sind und daher während der vergangenen Jahrzehnte die Stellen eines „Ausländerbeauftragten“ oder einer „Frauenbeauftragten“ geschaffen wurden, ist die Tätigkeit des „Sektenbeauftragten“ sonderbarer Weise ganz gegenteilig ausgerichtet:

Seine Arbeit dient nicht dem Schutz der weltanschaulichen Minderheiten vor einer gesellschaftlichen Ausgrenzung und Benachteiligung, sondern sein Selbstverständnis ist das des Schutzes und der Warnung der Bevölkerung vor den religiösen Minderheiten und den von ihnen angeblich ausgehenden Gefahren.

So gesehen ist die Begrifflichkeit des „Sektenbeauftragten“ eigentlich irreführend. Richtiger und der Aufgabe entsprechend wäre hier die Bezeichnung „Sektenbekämpfungsbeauftragter“ oder „Stelle zur Bekämpfung des Sektenwesens“. Bisher gibt es in Deutschland keine staatliche Stelle, die sich, etwa vergleichbar mit den „Ausländerbeauftragten“ um die Belange von Menschen kümmert, die eine Diskriminierung aufgrund ihrer weltanschaulichen Betätigung erleiden.

Die Schaffung von kirchlichen oder staatlichen Sektenberatungsstellen geht von der bislang nicht wissenschaftlich belegten Wahrnehmung aus, dass von „Sekten“ eine Gefahr für die Menschenrechte, Demokratie und Freiheit des Menschen ausgeht. Dass diese Gefahr in höchstem Maße besteht, und noch viel zu wenig öffentlich wahrgenommen wird ist die feste Überzeugung der Sekten-Gegner. Denn, würde sie nicht bestehen, hätten sie keine Daseinsberechtigung.

Während die Sektenstellen und eine Reihe, meist konservativ-christlich orientierter Politiker also keine Möglichkeit ungenutzt lassen, die von „Sekten“ und Kulten ausgehenden Gefahren zu beschwören, hat auf der „Gegenseite“ bisher nur eine Handvoll Religionswissenschaftler und Professoren für eine Versachlichung der Debatte eingesetzt und auf die Schutzbedürftigkeit kleiner, und neuartiger religiöser Bestrebungen hingewiesen. Ihre Stellungnahmen, wie die des im 1. Teil dieser Texte erwähnten Professor Kriele, fanden bisher jedoch öffentlich kaum Gehör, bzw. erreichten nicht die breitere Medienöffentlichkeit.

Das Meinungsbild der Bevölkerung schließlich, wird mit schöner Regelmäßigkeit durch Skandalmeldungen und Schreckensnachrichten von „Ufo-Sekten“, „Klon-Sekten“, „Terror-Sekten“ bestimmt. Romane und Filme über Sekten, welche die Sektenklischees von Gehirnwäsche und willenlosen „Anhängern“ transportieren gibt es zu Tausenden.

Wo liegt nun die Wahrheit? Woher kommt die heute allgemein verbreitete und kaum mehr hinterfragte Meinung, dass Sekten eine Gefahr für die Demokratie darstellen? Welche Personen und Institutionen haben diese Meinung geschaffen? Ist diese Einschätzung wirklich haltbar?

1 Massimo Introvigne: Schluss mit den Sekten! Die Kontroverse über „Sekten“ und neue religiöse Bewegungen in Europa

Hg. und eingeleitet von Hubert Seiwert.
1998, 130 Seiten, ISBN 3-927165-50-6.

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