Rolle rückwärts: Vom Paulus zum Saulus

Was geschieht, wenn ein Mensch, der hohe Ideale vertritt und lebt, angegriffen wird und es ihm aber in der Folge nicht gelingt, sich selbst und seiner Liebe zum Ideal treu zu bleiben? Das Leben des Angelus Silesius (1624 – 1677) bietet hierzu ein Anschauungsbeispiel, wie tragisch es sich für Biografie und Schicksal eines Menschen auswirken kann, wenn der Schritt, schöpferisch-produktiv mit Angriffen und Verleumdungen umzugehen, nicht gelingt.

Frühe Jahre

Das Grundnaturell des Angelus Silesius war von einem starken religiösen Suchen geprägt. An der Freien Universität Leyden in Holland kam er 1644 mit mystischer Literatur, insbesondere mit den Schriften des geistig tief wissenden Jakob Böhme (1575 – 1624) in Berührung. Dies verschaffte ihm eine große innere Befriedigung, hier fand er seine geistige Beheimatung.

1649 kehrt er nach Schlesien zurück und tritt dann Abraham von Franckenberg (1593 – 1652), der selbst ein Schüler von Jakob Böhme war näher. Dies wird die bedeutsamste Freundschaft seines Lebens. Insbesondere gab Franckenberg dem Angelus Silesius Anleitungen, die in Holland empfangenen Eindrücke aus den Schriften von Jakob Böhme richtig zu verarbeiten.

In diesen 3 Jahren des Kontaktes mit Abraham von Franckenberg hatte Angelus Silesius tiefe mystische Erfahrungen. Es entstanden beispielsweise in einem Zug die ersten Bücher des „Cherubimischen Wandersmann“, einer Sammlung kurzer, kostbarer und tiefgründiger Reime über den Menschen und seinen Bezug zur geistigen Realität, wie z.B.:

Halt an, wo laufst du hin – der Himmel ist in dir,
suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für.

Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren
Und nicht in Dir, du bleibst noch ewiglich verloren.

Die Ros‘ ist ohn warum, sie blühet weil sie blühet,
sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht ob man sie siehet.

Der gesamte Grundtenor dieser Reime nimmt das Göttliche in das menschliche Subjekt herein. Das Göttliche gewinnt für Angelus Silesius Gestalt und Leben, ja Realität im Menschen. Es bleibt für ihn nicht mehr bloß intellektuelle Angelegenheit oder reine Glaubensangelegenheit, die fern vom menschlichen Sein wäre.

Dementsprechend hart war für ihn der Schlag, als Abraham von Franckenberg 1652 verstarb. Nach Franckenbergs Tod wollte er nun ein Gebetsbüchlein herausgeben und gemäß der damaligen Gepflogenheit musste er es beim zuständigen Zensor, dem lutherischen Hofprediger Christoph Freitag (1597 – 1657), zunächst vorlegen. Der Zensor Freitag lehnte das Büchlein nach kurzer Prüfung des Inhalts in einem grobschlächtigen Gebaren ab. Er hatte offensichtlich keinen Sinn für diese innere Erfahrungswelt, die eine Einheit zwischen dem Menschen und dem Geiste zum Ausdruck bringt und wollte wohl auch nicht in den Ruf kommen, er unterstütze durch die „hochinbrünstigen“ Gebete den Enthusiasmus. Hart und engstirnig lehnte der unsensible Vertreter der Orthodoxie, der nur die eigene Meinung und Linie gelten lassen wollte, eine mystische Kostbarkeit ab.

Tragische Wendung seines Lebens

Dies löste im äußerst sensibel veranlagten Angelus Silesius eine maßlose Empörung aus. Er wurde dem Luthertum gram. Ohnehin vermisste er schon länger bei den lutherischen Predigern die Kenntnis der alten Frömmigkeit. In der Folge dieses Ereignisses vollzog sich eine entscheidende tragische Wendung in seinem Leben, entschieden in nur kurzer Zeit: Kochend vor Wut, aufgewühlt, ohne ruhige klare Abwägung trat er 1653, 29-jährig, 1 Jahr nach dem Tod Franckenbergs zum Katholizismus über.

Fortan ließ sich Angelus Silesius das Gesetz und die Ebene seines Handelns ganz von seinen Gegnern vorschreiben. Die Protestanten empfanden natürlich den Übertritt als Verrat und ließen künftig keine Gelegenheit aus, ihn anzugreifen, zu diffamieren und zu verleumden. Angelus Silesius wiederum sah sich ständig genötigt, zum Gegenschlag auszuholen und Rechtfertigungen und später sogar hasserfüllte Streitschriften herauszugeben. Hierin wurde seine so kostbare innere Stimme, sein tieffühlendes mystisches Wesen erstickt. Er rief sogar zu äußerer Gewaltanwendung gegen Ketzer auf in seiner Schrift „Gerechtfertigter Gewissenszwang oder Erweis, dass man die Ketzer zum wahren Glauben zwingen könne oder solle.“ Der lichtvolle Dichter wurde zum zänkischen Glaubensstreiter. Er gab den Arztberuf auf, studierte Theologie und wurde 1661 zum Priester geweiht. 1677 zog er sich völlig allein zurück und erwartete zurückgezogen den Tod – nach der Überlieferung durch Tuberkulose im Alter von 52 ½ Jahren.

Es mutet in der Tat sehr tragisch an, wenn man den Lebenslauf von Angelus Silesius auf sich wirken lässt. Nicht am Ende des Lebens erreichte er seine Blüte und Reife, sondern in der Mitte mit etwa 28 Jahren. Was war der entscheidende Punkt im Leben dieses Mystikers, der die tragische Wende gebracht hat?

Walter Nigg, der große evangelische Heiligenforscher und Biograph, schrieb dazu in einem Aufsatz über Angelus Silesius (im Buch: Heimliche Weisheit), dass dieser sich in der Folge des unerfreulichen Angriffs durch den Zensor seiner mystischen Einstellung gemäß erneut auf sein starkes Erlebnis „Der Himmel ist in Dir“ hätte besinnen müssen, denn in diesem Jahrhundert habe es keine andere Möglichkeit gegeben, als der „äußeren Kirche“ die „innere Kirche“ entgegenzusetzen, dank deren Glut man auch die Mauerkirche ruhig hätte ertragen können.

Die Konvertierung zur Katholischen Kirche mutet tatsächlich im Rückblick wie ein Abstieg an und durch das Einlassen auf die Ebene der Angriffe des Zensors und nachfolgend der Vertreter der evangelischen Kirche konnte Angelus Silesius sie nicht „produktiv“ nutzen. Wie ungleich förderlicher wäre es gewesen, wenn der Mystiker einerseits auf der psychischen Ebene die schmerzlichen Diffamierungen und die Ungerechtigkeit ertragen und sich andererseits umso konsequenter der Weiterentwicklung seiner mystischen Erkenntnisse und der seelisch-geistigen Vervollkommnung seines Lebens gekümmert hätte.

Abschließend ist es interessant, Abbildungen des Schlesiers zu betrachten. Auf diesem Bild blickt uns, so meine ich, ein wacher, interessierter, sympathischer Mensch an:

angelus1

Die fanatischen Glaubenskämpfereien, auf die sich Angelus Silesius eingelassen hat, fanden später einen Ausdruck bis in den physischen Gesichtsausdruck hinein. Das folgende Bild ist deutlich von einem eher unsympathischen, scharfen und harten Gesichtsausdruck gezeichnet:

angelus2

Ich meine, in diesem Beispiel ist sehr deutlich eine innere Gesetzmäßigkeit zu erkennen: Angelus Silesius hat es versäumt, zu seinen tiefen spirituellen Empfindungen zu stehen und sich dazu hinreißen lassen, dass die groben Anschuldigungen seiner Gegner ihm das Leben vollkommen diktieren. Dadurch hat er aber auch das Teuerste, das er hatte, preisgegeben: Sein tiefes, empfindsames und den geistigen Wahrheiten sehr nahe stehendes Seelenleben. In seiner frühen Zeit war Silesius nach meinen Eindrücken fähig, eine innere Schau zu entwickeln, welche die Realitäten des Christentums fernab vom äußeren Bekenntnisglauben zu erkennen in der Lage war. Indem Angelus Silesius sich das Niveau seines Lebens von anderen vorgeben ließ, indem er sich quasi ihnen unterworfen hatte, ging ihm die Fähigkeit der tiefen inneren Schau verloren. In den späteren Gedichten und Schriften vermisst man schmerzlich die Tiefe und den Gehalt seiner früheren Veröffentlichungen.

Ich denke, dieses Beispiel kann uns nachdenklich stimmen. Man hätte Angelus Silesius gewünscht, dass er doch die Angriffe als eine Aufforderung verstehen hätte können, sein eigenes Leben noch mehr zu zentrieren und zu vervollkommnen. Durch die Möglichkeiten einer geistigen Schulung, in seinem Fall wohl durch eine intensivere Beziehungsaufnahme zu den Schriften und dem Geist des Jakob Böhme, kann gerade in Situationen größter Kränkung und Verfolgung der Weg in ein gehobeneres, weiteres und freieres Sein angetreten werden. Denn ein Angreifer stellt immer mit seinen Beleidigungen und Verleumdungen dem Angegriffenen ein Stück seiner Seele zu Verfügung. Dieses Potential kann tatsächlich genutzt werden, um das eigene Leben auf ein neues Niveau zu heben.

Robert Lindermayr

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